Kurzgeschichte: Der Rechenfehler

Ein kleiner Disclaimer: Ich habe schon in vielen verschiedenen Firmen gearbeitet. In dieser Geschichte ist ein bisschen aus jedem einzelnen Job enthalten. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind aber natürlich purer Zufall und allein meiner manchmal etwas enthusiastischen Fantasie geschuldet.

Der Urlaub, immerhin mein erster richtiger in meiner noch jungen Karriere, war viel zu schnell vorbei gewesen. Kaum hatte ich mich ein wenig angefangen zu entspannen, war es auch schon wieder Sonntagabend. Und nun stand ich vor dem Haupteingang des Unternehmens, in dem ich mindestens 40 Stunden jede Woche verbrachte. Aber ich konnte nicht klagen, die Arbeit machte Spaß, die Kollegen waren nett, die Chefs alt, Aufstiegschancen würde es in den nächsten Jahren mehrere geben.

Ich ging durch die großen Eingangstüren in das Foyer - den “Palast”, wie wir ihn nannten. Meine Schuhe klackten laut auf dem italienischen Marmor, mein halbwegs ausgeruhtes Gesicht spiegelte sich in den wie immer auf Hochglanz polierten Goldbordüren. Ich fischte meine Zugangskarte aus der Tasche und hielt sie an das Lesegerät. Das trötete ablehnend und zeigte rot. Nichts besonderes, das passierte öfter. Ich hielt die Karte noch einmal vor das Lesegerät. Wieder nichts. Die nächsten zwei Versuche änderten das auch nicht. Verdammt. Der erste Tag nach dem Urlaub fing ja gut an.

Ich trottete zum Empfang. Dort saß Jennifer. Die 25-jährige Rezeptionistin faszinierte mich - so wie man bei einem Unfall nicht wegsehen konnte. Ich schätzte, dem restlichen männlichen Teil der Belegschaft ging es nicht anders. Bei ihr paarte sich blendendes Aussehen mit einer erstaunlichen Naivität und dem völligen Fehlen eines moralischen Kompasses. Sie war sehr beliebt als Reisebegleitung, wenn die Chefetage zur Messe fuhr und das bestimmt nicht wegen der erbaulichen Gespräche, die man mit ihr führen konnte. “Guten Morgen, Herr Ahlborg,” flötete sie mich mit einem blendenden Lächeln an.

“Morgen,” erwiderte ich. “Das Lesegerät schluckt meine Karte nicht.”

Ich reichte ihr die Karte.

“Oh, schauen wir mal, das haben wir gleich.”

Ihre zentimeterlangen Fingernägel klackerten über die Tastatur ihres PCs, ein Geräusch, bei dem sich mir die Nackenhaare aufstellten. Während ich auf das Ergebnis wartete, sah ich mich im Foyer um. Einige Kollegen standen in kleinen Gruppen herum, andere kamen gerade durch die Tür. Und alle, jeder einzelne von ihnen starrte mich an. Mich überkam ein seltsames Gefühl. Irgendetwas war im Busch. Meine Nackenhaare richteten sich noch etwas weiter auf. Dann klingelte das Telefon neben Jennifer. Sie runzelte die Stirn und nahm ab. Kurz lauschte sie einer Stimme und sah mich dann mit großen Augen an.

“Sie sollen bitte sofort zum Meetingraum 17B kommen.”

Oh Fuck. 17B war der Raum direkt zwischen Human Resources und Geschäftsführung. Hier wurden Leute eingestellt - oder gefeuert. Mein Hals war zu trocken, um irgendwas herauszubringen. An meinen Nackenhaaren hätte man sich jetzt ernsthaft verletzen können. Ich nickte Jennifer kurz zu, sie nickte mit dem Lächeln einer Person zurück, die ganz genau weiß, dass sie niemals gefeuert werden wird, weil dann die halbe Chefetage in den Knast wandern würde. Man konnte direkt neidisch werden…

Ich ging, etwas wacklig, zum Fahrstuhl. Während der Fahrt nach oben zermarterte ich mir das Hirn. Was hatte ich falsch gemacht? Wollten die mich wirklich feuern? War ich wem auf die Füße getreten? Verflucht, wo lag das Problem?

Ich weiß nicht genau, wie ich zum Konferenzraum gekommen war, jedenfalls wurde mir auf einmal bewusst, dass ich direkt vor der Tür stand. Ich klopfte zaghaft und trat ein. In der klimatisierten, nach Auslegeware riechenden Luft des Konferenzraumes saßen drei Leute und meine Vermutung wurde traurige Gewissheit. Dies waren die letzten Minuten in dieser Firma.

In der Mitte des Tisches saß Augustus Adolf Radebrecht Striesinger, Firmenerbe, Geschäftsführer und erzkonservativer Mistkerl. Mit der Statur eines Stiers, der Geduld eines Eichhörnchens im November und der Aufmerksamkeitsspanne eines Goldfisches gesegnet, besaß der Mann genau zwei Strategien im Umgang mit seinen Untergebenen. Strategie A bestand darin, besagten Untergebenen nach Strich und Faden zusammenzubrüllen. Dafür benötigte er keinen Grund, er war Meister darin, das Haar in der Suppe zu finden. Nur wenn es sich gar nicht vermeiden ließ, kam Strategie B zum Einsatz. Wenn sich bei der Arbeit eines Angestellten wider Erwarten kein Fehler finden ließ, kam ein kurzes “Hrmpf” als höchstes Lob. Drei “Hrmpfe” in einem Jahr bedeuteten den sicheren Aufstieg in die Chefetage. Die IT-Abteilung, der ich angehörte, hatte einen schweren Stand bei ihm, die “Käsekisten” wie er PCs zu nennen pflegte, waren für ihn die Ursache von allem, was in dieser Firma schief lief.

Neben Striesinger saß Bunkelrieder. In der Hauptsache Sohn seiner reichen Eltern, war er von Striesinger auf Bitten seines Vaters, mit dem er regelmäßig Golf spielte, auf den Posten des Chefs der Personalabteilung gesetzt worden. Zum Erstaunen aller passte der Job auf Bunkelrieder wie die Faust aufs Auge. Als natürlicher Psychopath besaß er die Fähigkeit, Menschen ohne den Ballast von Empathie und Emotionalität als “humane Ressource” zu betrachten, die es so gut wie möglich zu “utilisieren” galt. Ebenso konnte er einem mit einem breiten Grinsen im Gesicht die Kündigung aussprechen. Bunkelrieder grinste breit.

Striesinger holte tief Luft für Managementstrategie A. Bunkelrieder legte ihm schnell die Hand auf den Arm und Striesinger ließ die Luft wie ein angestochener Fahrradschlauch wieder entweichen.

“Herr Ahlborg, " begann Bunkelrieder, “schön das Sie da sind. Wie war der Urlaub?”

“Äh, Guten Tag,” stammelte ich, " Gut war der Urlaub, viel, äh, Freizeit!”

“Schön, schön. Bitte setzen Sie sich doch.” Bunkelrieder deutete auf einen Platz gegenüber von Striesinger. Während ich mich setzte, fiel mir die dritte Person auf, die mit am Tisch saß. Zu meinem Erstaunen erkannte ich Peter Müller, meinen Kollegen aus der IT-Abteilung. Arbeitete viel mit der Personalabteilung zusammen, Lohnabrechnung und solche Sachen. Den langweiligen Kram halt. Wie Peter selbst. Keine Hobbies, keine Familie. Nur Arbeit. Peter sah mich misstrauisch an. Meine Gedanken rasten. Ich hatte wenig mit ihm zu tun, manchmal saß er beim Mittagessen mit am Tisch. Hatte ich irgendwann man etwas gesagt, was er mir krumm nehmen konnte? Hatte ich irgendeine Arbeit von ihm gestört?

“Herr Ahlborg,” riß mich Striesinger brüllend aus meinen Gedanken. “Ich will gleich zur Sache kommen. Woran haben Sie vor Ihrem Urlaub gearbeitet?”

“Äh, ich bin momentan im Leitsystem-Projekt zugeteilt, bei …”

“Ja, ja, weiß ich schon.” unterbrach er mich unwirsch. “Haben Sie ihre Stunden in die Zeiterfassung eingetragen?”

“Selbstverständlich!” sagte ich. Moment mal. Ging es hier um Arbeitszeitbetrug? Wollten sie mich so drankriegen? Aber warum? Ich war noch ein Niemand in der Firma und ich wusste beim besten Willen nicht, was ich mir zu Schulden gekommen lassen hatte.

“Selbstverständlich habe ich alle Zeiten korrekt eingetragen, Minutengenau, wie in der letzten Betriebsanweisung gefordert.”

Peter Müller meldete sich. Er tat das, in dem er mit vollem Ernst den Arm hob, wie in der Schule. Bunkelrieder nickte ihm mit einem Lächeln, das nicht die Augen erreichte, zu.

“Martin, ist dir bei der Eingabe der Zeiten irgendwas seltsames aufgefallen?”

Ich dachte angestrengt nach.

“Nein, ich habe meine letzten Zeiten eingegeben, die letzte waren 1,67 Stunden, glaub ich. Dann habe ich den Monat abgeschlossen, es war ja Monatsende.”

Bei der Erwähnung der Stundenzahl horchte Peter auf.

“Moment mal, hast du wirklich Eins Komma Sechs Sieben eingeben?”

“Ja, war das nicht korrekt? Ich kann sofort gehen und es korrigieren!”

Bunkelrieder wandte sich an Peter. “Hilft uns das?”

“Naja, die Zeiteingabe wurde vor kurzem umgestellt, und wenn da im Stringparsing die falsche Locale…”

“Reden Sie Deutsch, Mann!”, blaffte Striesinger.

Peter schluckte.

“Also, denkbar wäre es schon, dass das zu dem, äh, Schluckauf, geführt haben könnte.”

Striesinger lief rot an.

“Wer verzapft so einen Müll?” brüllte er, “wer hat das programmiert, ich dreh dem den Hals um!”

Peter, käsebleich, antwortete mit gepresster Stimme.

“Das war Enzensberger Consulting…”

Ich bemühte mich, mein Gesicht so ausdruckslos wie möglich zu halten. Enzensberger Consulting war die “Softwarefirma” des Bruders von Striesinger und von dort war bisher nichts gekommen, was auch nur annähernd die Millionen rechtfertigte, die in die Gegenrichtung flossen.

Striesinger knurrte sauer.

“Ich rede mit Alois darüber. Das muss er uns bezahlen.”

Ich beschloss, dass es nun genug war, ich wollte endlich wissen, was zum Teufel los war.

“Entschuldigen Sie bitte, können Sie mir vielleicht erklären, was mir vorgeworfen wird?”

Striesinger runzelte verwirrt die Stirn.

“Vorgeworfen? Nein, wir werfen Ihnen nichts, vor, die Messen sind alle schon gesungen. Bunkelrieder, erklären Sie es ihm!”

Bunkelrieder grinste breit.

“Sagen Sie Herr Ahlborg, haben Sie eigentlich schon Pläne für die Rente?”

Ich war kurz sprachlos.

“Äh, nein? Ich habe vor einem Jahr mein Studium abgeschlossen und noch über vierzig Jahre Arbeit vor mir…”

“Wie dem auch sei,” unterbrach mich Bunkelrieder. “Lassen Sie mich von vorn anfangen. Sie haben am letzten Tag vor Ihrem Urlaub Ihre Stunden in die Zeiterfassung eingetragen. Wie wir nun wissen, haben Sie dafür nicht das korrekte Format benutzt, was dazu geführt hat, das im System nicht 1,67 Stunden, sondern 167 Millionen Stunden verbucht wurden.” Ich starrte Bunkelrieder entgeistert an. “Äh, aber das kann man doch korrigieren, ich verstehe nicht…”

Bunkelrieder unterbrach mich mit einer ungeduldigen Handbewegung.

“Haben wir natürlich gemacht, gleich Montag früh. Leider haben Sie auch den Monat abgeschlossen. Das System hat im Nachtlauf am Wochenende ihr Stundenkonto saldiert und festgestellt, dass Sie das Maximum Ihrer Lebensarbeitszeit überschritten haben. Es hat automatisch eine Meldung an die Rentenversicherung rausgeschickt. Dort muss sich das System ebenfalls an der Stundenzahl verschluckt haben und hat Sie sofort verrentet.”

“Was??? Aber, aber, das kann man doch sicher rückgängig machen!”

“Nun sehen Sie, das ist ein kleines Problem. Sie wissen schon, Deutschland, die Digitalisierungswüste und so.”

Er rollte mit den Augen.

“Die Rentenversicherung stellt gerade ihre Systeme um, also seit fünf Jahren tun sie das. Digital eingereichte Meldungen lassen sich leider nicht zurücknehmen. Ihr Rentenbescheid ist schon in Zustellung und nicht mehr anfechtbar.”

Ich konnte das alles nicht glauben.

“Es muss doch Möglichkeiten geben, da raus zu kommen,” rief ich verzweifelt, “ich habe doch erst ein Jahr gearbeitet, da hab ich doch noch gar keine Rentenpunkte gesammelt…” “Nun ja, wie es scheint, eben doch. 167 Millionen Stunden entsprechen gut 96000 Arbeitsjahren. Die Software der Rentenversicherung, wie gesagt, sie bauen noch dran, hat Ihnen entsprechende Rentenpunkte gutgeschrieben. Nach meinen Berechnungen haben Sie Anspruch auf eine monatliche Rente von 1,5 Millonen Euro.”

Eine Weile lang hörte ich nur das Blut in meinen Ohren rauschen. Bunkelrieder grinste weiter, während Striesinger düster vor sich hin starrte.

“Aber, ich will doch noch gar nicht in Rente gehen,” krächzte ich. Mein Denkvermögen war derzeit auf dem Niveau von Jennifer, der Rezeptionistin.

“Tja, Pech,” schnauzte Striesinger. “Da können Sie nichts machen. Alles gute im Ruhestand!”

Er stand auf, stampfte um den Tisch herum und reichte mir die Hand. Automatisch griff ich danach und spürte einen eisernen Händedruck, der mich wünschen ließ, meine Hand würde in etwas angenehmeren stecken. In einem Schraubstock zum Beispiel, oder in den Kieferknochen eines Pitbulls. Striesinger sah mich an und in seinen Augen flackert glühende Wut. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich zu Tür.

Hinter ihm kam Bunkelrieder zum Vorschein.

“Auch von mir alles gute zum Ruhestand,” sagte er grinsend. “Lassen Sie uns doch bei Gelegenheit mal ein Bierchen trinken.”

Ganz bestimmt nicht, du Wichser, dachte ich.

“Aber gerne doch, ich melde mich!”, sagte ich.

Dann war auch er zur Tür raus, ganz sicher, um Striesinger noch ein bisschen den Arsch zu lecken.

“Mann, du hast aber auch ein verdammtes Glück,” hörte ich Peter hinter mir sagen. Ich drehte mich um. Er sah mich traurig an.

“Sag mal, träume ich? " fragte ich ihn. “Bin ich in einem schlechten Film, oder noch schlimmer, in einem Roman von Kafka gelandet?”

“Nein, nein, alles echt. Was die beiden dir eben nicht gesagt haben, die Firma musste einen Millionenbetrag an Rentenversicherungsbeiträgen nachzahlen. Dagegen können Sie sich nicht wehren, das würde eine Betriebsprüfung nach sich ziehen und Striesinger hat so viele Leichen im Keller, das würde die Firma nicht überleben. Daher tut man so, als wäre nichts geschehen.”

Er nahm mich beim Arm.

“Komm, die Kollegen wollen sich noch verabschieden.”

Ich nickte nur, und ließ mich von ihm aus dem Konferenzraum ziehen. Wie im Traum lief ich den langen Flur herunter. Gedanken tobten in meinem Kopf hin und her. Offenbar musste ich mir nie wieder Gedanken um Geld machen. Aber ich wollte noch gar nicht in Rente, mein Job machte mir eigentlich Spaß, zumindest, wenn die Chefetage nicht in der Nähe war.

Peter drückte den Knopf an der Fahrstuhltür und schob mich durch die sich öffnenden Türen. Unten angekommen öffneten sich die Türen in Foyer, das nun voller Leute war. Ich trat aus dem Fahrstuhl und sofort erstarben alle Gespräche. Wieder schauten mich alle an.

Dann fing irgendwo im Hintergrund jemand an zu klatschen. Nach kurzer Zeit war das Foyer von donnerndem Applaus erfüllt, der von den Marmorwänden widerhallte. Jennifer kam mit strahlendem Lächeln auf mich zu und drückte mir einen gigantischen Obstkorb in die Hand und ein Küsschen auf die Wange. Mein Team kam auf mich zugeeilt. Karsten, mein Chef, drückte mir die Hand.

“Du Mistkerl, " rief er lachend und versuchte den Lärm zu übertönen. “du hast tatsächlich das System ausgedribbelt. Du hast den Glitch in der Matrix gefunden. Wir sind hier alle echt neidisch auf dich.”

Justus, einer meiner engsten Kollegen im Team versuchte mich zu umarmen, was wegen des Obstkorbs nicht so einfach war.

“Komm erstmal klar. Und dann lass uns ein Bierchen trinken. Du zahlst!” rief er grinsend.

“Klar, machen wir.” rief ich zurück und diesmal meinte ich es auch.

Dann öffnete sich die Menge und machte einen Weg zur Tür frei. Gleichzeitig schloss sich hinter mir der Weg zum Fahrstuhl. Offenbar wollte man wieder mit der Arbeit beginnen. Nun, da wollte ich nicht im Wege stehen. Ich Rentner, ich. Ich konnte es immer noch nicht glauben.

Ich lief zur Tür und trat hindurch. Die Tür schloss sich und schlagartig war es still. Die Sonne schien. Vögel zwitscherten in den Bäumen des Industrieparks, in dem das Firmengebäude lag. Es roch nach frisch gemähtem Rasen. Ich stand eine Weile da, in meinem Kopf herrschte völlige Stille. Schließlich ein Gedanke: man könnte doch eigentlich mal nach Italien fahren. Soll schön dort sein.